192 Seiten, erschienen als eBook und gebundenes Buch im Gräfe und Unzer Verlag am 07.05.2019 |
„Lesen oder hören Sie von Fällen, wie ich sie bisher beschrieben habe, fragen Sie sich vielleicht, wie solche Urteile zustande kommen können.“
(Ingo Lenßen in Ungerechtigkeit im Namen des Volkes)
Worum geht’s?
Der aus dem TV bekannte Strafverteidiger Ingo Lenßen befasst sich in „Ungerechtigkeit im Namen des Volkes“ mit unausgewogenen und unfair anmutenden Strafurteilen deutscher Gerichte und möchte dem Leser anhand zahlreicher Beispiele aus eigener und medialer Herkunft mehr Transparenz gewähren in ein schier unübersichtliches System, welches häufig zu Unverständnis führt. Anhand dieser über 40 Fälle möchte er Ansatzpunkte für eine Verbesserung der Strafjustiz und der damit einhergehenden Steigerung des Gerechtigkeitsgefühls aufzeigen.
Schreibstil / Gestaltung
Das Hardcoverbuch verfügt über einen abnehmbaren Schutzumschlag, auf dem sich neben dem Buchtitel ein Portrait von Ingo Lenßen und Teile einer Justitia befinden. Das umschlaglose Buch ist in der gleichen Petrolfarbe gehalten wie der Umschlag. Auch im Inneren setzt sich die Farbgebung schwarz-weiß-petrol weiter fort. Das Cover ist dezent und angemessen für das Buch.
Das Buch besteht aus einem Vorwort, 18 Kapiteln und einem Schlusswort. Die Kapitel werden jeweils durch eine ganzseitige Überschrift eingeleitet und sind teilweise mit petrolfarbenen Zwischenüberschriften versehen. In den Kapitel sind farblich in petrolfarbener Schrift die Fälle hervorgehoben, die Urteile werden in schwarzen Fettdruck nachgestellt.
Der Schreibstil ist sachlich-nüchtern und der Autor führt in der Ich-Form durch das Buch.
Mein Fazit
Ungerechtigkeit im Namen des Volkes war eines der Bücher, auf welches ich mich 2019 am meisten gefreut habe und bei welchem seit Monaten der Erscheinung entgegengefiebert habe. Ingo Lenßen ist hinlänglich bekannt und hat in diversen Sendungen seine Kompetenz bereits unter Beweis gestellt. Als das Buch dann kam, wurde jedoch aus Leselust sehr schnell Lesefrust. Am Ende bleibt ein Mischung aus Enttäuschung, Frustration und ein Quäntchen Wut. Doch warum?
Zunächst bemerkte ich bereits nach wenigen Seiten, dass der Schreibstil des Autoren nicht mein Ding ist. Ich empfand das Buch als anstrengend zu lesen, da es größtenteils wie ein verschriftlichter Vortrag wirkte. Die Sätze sind entweder sehr kurz oder sehr verschachtelt, die Absätze sind insbesondere in der ersten Hälfte teilweise nur einen oder zwei Sätze umfassend. Ingo Lenßen bedient sich einer großen Bandbreite an Füllwörtern. Dies empfand ich vor allem auch deshalb irritierend, da die Textlast des Buches nicht sonderlich hoch ist. Das Buch verfügt über 192 Seiten, hiervon sind mindestens 18 Seiten die ganzseitige Kapitelüberschriften, es gibt zudem noch einige Tabellen und Schaubilder, was den Inhaltsumfang bereits auf gute 165 Seiten kürzt. Doch durch viele Absätze, sehr großzügig bemessene (und verhältnismäßig große) Seitenränder und einem mindestens 1,5fachen Zeilenabstand ist der Inhalt auf den verbleibenden Seiten doch sehr reduziert. Hier greift definitiv mehr Schein als Sein. Dieser Eindruck wird auch dadurch verstärkt, dass der Autor in nahezu jedem Kapitel mindestens einmal ein Thema anschneidet, welches „im weiteren Verlauf an Stelle xyz“ behandelt wird. So wurden andauernd Themen angesprochen, die dann in der Luft hingen, weil sie später relevant werden würden. Wenn man berücksichtigt, dass die jeweils 18 Kapitel meist nur einen Umfang von 5-10 Seiten haben, ist dies sehr anstrengend und wirkt planlos. Das ganze Buch erweckt einen sprunghaften Eindruck.
Es existiert eine für mich undurchsichtige Struktur, die dazu führt, dass der – unerfahrene – Leser erst im Verlaufe des Buches mit Themen wie „wie entsteht ein Urteil“ und „welche Punkte spielen eine Rolle“ konfrontiert wird, aber bereits seit Seite 2 mit Fällen fast so um sich geworfen wird. Die Behandlung der jeweiligen Themen besteht zum Großteil daraus, dass Ingo Lenßen dem Leser direkt und indirekte Fragen stellt, die größtenteils rhetorischer Natur sind. Gern weist der Autor auch darauf hin, dass er den Leser ja nicht mit Theorie langweilen mag, dies manchmal aber notwendig ist – mit Theorie meint er dann aber meist nur wenige knappe Sätze, die nicht einmal den Kern des Problems erläutern können. Das Buch wirkt über weite Phasen wirr und nicht durchdacht, es wird wild verwiesen – vorwiegend nach hinten, selten nach vorne. So kommt es auch vor, dass Passagen inhaltlich oder sinngemäß wiederholt werden: einmal wiederholt der Autor fast wortwörtlich zwei Seiten später einen Abschnitt, einmal thematisiert er bei den Strafzumessungsgründen doppelt die Gesinnung des Täters in unterschiedlichen Worten, aber mit gleicher Quintessenz und dann präsentiert er den vermeintlichen „Nachklapp“ eines zu Beginn genannten Falles, den er allerdings am Anfang bereits als Nachtrag zum Fall erzählt hatte. Mehr als einmal dachte ich daher, dass hier ohne Plan gewerkelt wurde.
Auch inhaltlich merkte ich schnell, dass das Buch nicht viel zu bieten hat. Es werden einige juristische „Fachbegriffe“ angesprochen, die aber nicht oder nur sehr oberflächlich erläutert werden. Andere Themen werden angesprochen, sodass man auf eine endlich kommende Erklärung hofft, dann bricht das Kapitel aber unverrichteter Dinge wieder ab. So spricht der Autor die komplizierte Gesamtstrafenbildung an, rechnet sogar etwas vor, bricht dann aber mit Hinweis auf das fehlende Verständnis des Laien ab. Kurz danach wird die mehrfache Bewährung angeführt, die der Autor kritisiert, dann aber nach zwei Sätzen auch nicht erklären mag, wie es dazu kommt und warum sie schlecht ist. Ständig denkt man: Jetzt geht’s endlich los. Doch es geht nicht los. Ständig bleibt der Leser sich selbst überlassen und zwischenzeitlich hatte ich fast schon den Eindruck, der Autor möchte möglichst viel – unbelegte – Kritik äußern, die der Leser wie ein Schwamm aufsaugen soll. Kann und will ich aber ohne entsprechende Erklärungen nicht.
Hinzu kommen außerdem Schaubilder, die der Autor unerklärt einfügt (da gibt es einmal die Antragstaxen der Staatsanwaltschaft, bei denen ganz selbstverständlich von §316 und §315c StGB und Sachen wie bedeutender Wert gesprochen wird, der Autor aber kein Wort darüber verliert, WAS das alles ist -soll sich der Leser halt selbst zusammenreimen) oder nur als Schockeffekt nutzen möchte (es werden die rechnerisch möglichen Minderungen nach § 49 I StGB angeführt, es wird aber weder erklärt, in welchen Situationen Minderungen erfolgen und welche Faktoren eine Rolle spielen, noch was der § 49 StGB eigentlich ist). Auf S. 36 führt der Autor ferner zum Thema Gerichtswahl aus, dass vor dem Amtsgericht ja eine maximale Strafe von einem Jahr zu erwarten ist – ich frage mich, ob dies richtig ist, da mir aus anderen Büchern eine 2-Jahres-Grenze bekannt ist. Auch finde ich die Beleuchtung einiger Themen unglücklich verzehrt, etwa als der Autor über die Polizeiliche Kriminalstatistik philosophiert, aber bekannte Faktoren wie Anzeigebereitschaft vergisst und beim Gegenüberstellen von Zahlen aus 2003 und 2017 offenbar nicht daran denkt, dass sich Bevölkerungszahl und Bevölkerungsstruktur verändert haben. Da helfen seine Ausführungen zu seinem persönlichen Gefühl dann auch weniger.
Man könnte meinen, dass ich zumindest von der Vielzahl an Fällen begeistert sein dürfte. 44 sind es an der Zahl. Fälle bedeuten bei Ingo Lenßen allerdings, dass ein Sachverhalt auf meist 3-4 Sätze runtergebrochen wird, quasi das mutmaßliche Kerngeschehen. Teilweise gibt es keine Informationen zu Alter der Beteiligten, persönlichen Umständen und Vorstrafen. Es gibt nur wenige Fälle, die tatsächlich ausführlicher gestaltet sind – das sind Fälle, an denen Herr Lenßen selbst gearbeitet hat. Der Rest? Das sind Fälle, die der Jurist aus Erzählungen und Medien kennt. So sagt er selbst „Mir ist dieser Fall nur aus der Presse bekannt, aber ich kann mich nur wundern“ – ich mich auch. Denn Herr Lenßen erhebt sich, Fälle auf Grundlage medialer Berichtserstattung zu bewerten, ohne bei Beweisaufnahme und Urteilsverkündung gegenwärtig gewesen zu sein. Entsprechend qualitativ sind teilweise auch seine Kommentare zu den Fällen, sofern sie über die üblichen Fragen hinausgehen, die bei Fallstudium hätten beantwortet werden können. Der Autor ist ergo genauso wissend wie der Leser. Immer wieder predigt der Autor, wie kompliziert Strafzumessung und Urteilsfindung sind, wie viele Feinheiten hier warten – nur um dann auf medialer Basis Fälle zu bewerten, bei denen er sich teilweise sogar nur einen einzelnen Aspekt heraussucht, an dem er seine Meinung aufhängen möchte. Absolut unverständlich und für meinen Geschmack sogar beinahe unprofessionell und fahrlässig.
Eines meiner größten Probleme in diesem Buch war der – so kam es mir persönlich vor – regelmäßige Vergleich von Äpfeln und Birnen. Munter werden Jugendstrafverfahren mit Erwachsenenstrafrecht verglichen, gar Straftaten ganz unterschiedlicher Natur wie die Körperverletzung mit Todesfolge in Verhältnis zu einem Urteil wegen Totschlags. Es wird eine tatmehrheitliches, qualifiziertes Delikt mit einer einfachen Körperverletzung verglichen, ein Delikt unter Alkoholeinfluss mit einem Angriff auf Polizeibeamte in Rahmen einer Demonstration. Zur Kontrolle habe ich den Vergleich einige Leuten vorgelegt, die fachfremd sind. Allesamt fanden die Vergleiche unpassend und unverständlich. Selten habe ich mich so oft gefragt, was der Autor eigentlich bezwecken will, indem er einzelne Facetten eines Falles heraushebt und kritisiert. Fälle, die vielleicht oftmals ähnlich wirken, unterscheiden sich in den Feinheiten. Das ist der Punkt, auf dem Strafverteidigung und Strafzumessung eigentlich basiert – der hier aber gewissermaßen vorgeführt wird. Verallgemeinerungen helfen meiner Meinung nach nicht.
Man muss ja fairerweise feststellen, dass das Buch selbst als „Strafjurist klagt an“ untertitelt ist. Das erfüllt das Buch. Es ist eine fortlaufende Anklage, die aus „ich meine“ und „ich denke“ besteht, aber kein Fundament hat, weil der Autor von Fällen spricht, die er selbst nur aus der Berichtserstattung kennt, der Autor in den Fällen – entgegen der Rechtspraxis – nur eine Rosine des Falls herauspickt und betrachtet, der Autor mit Fragen nur so um sich wirft, aber keine Antworten liefert. Habe ich hier nach der Buchbeschreibung erwartet, Kritik am Rechtssystem, zugleich aber Erklärungen für bestimmte Aspekte und gewisse Urteile zu finden, so scheint dies nicht der Anspruch von Ingo Lenßen zu sein. Dem Leser Urteile näherzubringen und in die Praxis einzuführen steht zu keiner Zeit auf der Agenda. Im Gegenteil fühlte ich mich als Leser permanent mit einem Urteil und seinen 2-3 rhetorisch anmutenden Fragen stehen gelassen, da die Antwort auf die aufgeworfenen Fragen fehlt – obwohl sie mit Beleuchtung des Falls sicher möglich gewesen wäre. Die in der Buchbeschreibung fehlende Transparenz der Urteile, die er angeblich bringt, suchte ich jedenfalls vergebens.
Natürlich liegt es auch in der Natur eines derartigen Buches, dass Einzelfälle herausgesucht werden, die als Exempel für Missstände dienen. Das ist auch ok. Allerdings sollte man sich meiner Meinung nach dann mit diesen Fällen auch hinreichend auseinandersetzen und seine Punkte erläutern. So wirkt alles nur wie ein bisschen Meinung hier, ein bisschen Meinung da, verbunden durch zahlreiche Fälle, die nicht einmal sonderlich detailliert geschildert werden und für den Leser auch mangels Angaben nicht nachprüfbar sind. An einigen Stellen hätte ich nämlich gern Infos gehabt, die ich sicher hätte googlen können, der Autor mag aber bis auf seltene Hinweise zum Gericht keine Angaben machen. Es ist auch nicht so, dass der Autor mit einigen seiner Eindrücke im Unrecht ist und seine Ansätze grundsätzlich falsch sind. Allerdings fehlen so viele grundlegende Erklärungen, dass der Leser sich meiner Meinung nach als Laie gar kein angemessenes Bild machen kann und nach dem Buch vermutlich denken wird, dass das Deutsche Strafrechtssystem der größte Verbrecherverein ist. Hätte der Autor doch lieber auf Erklärung und Aufklärung gesetzt, sodass der Leser zu einer – vom Autoren eigentlich intendierten – eigenen Meinung kommen kann… Der Autor hat sein rechtliches Knowhow so facettenreich nutzen können, erhebt diesen Anspruch aber offenbar gar nicht. Es bleibt bei mir großes Unverständnis.
Zum Abschluss bleibt für mich nur die Erkenntnis, dass dies aus verschiedenen Gründen eines der schlechten Real Crime Sachbücher ist, welche ich bisher habe. Es fehlt an Struktur, es fehlt an Erklärungen und der Informationsgehalt des Buches kommt größtenteils Schlagzeilen der großen Medien inklusive 0815-Stammtischparolen-anmutender Kommentierung gleich. Ingo Lenßen mag ein guter Schauspieler sein und sicher auch ein guter Strafverteidiger – ein guter Autor ist er für mich jedenfalls nicht. Dieses Buch erfüllte nicht einmal ansatzweise meine Erwartungen und entsprach leider überhaupt nicht der Vorstellung, die ich nach der Buchinfo hatte.
Bewertung: ★★☆☆☆
[Diese Rezension basiert auf einem Rezensionsexemplar, dass mir freundlicherweise vom Verlag überlassen wurde. Meine Meinung ist hiervon nicht beeinflusst.]